Menu

Die Künstlerin

von Sabine Zaplin,
Schriftstellerin und Kulturjournalistin

In dem Atlas der Kunstschaffenden, der so viele große Städte und Länder, Kontinente gar verzeichnet, wäre Pi Büchner wohl nicht leicht zu finden, denn sie ist eine Insel. Eine Schatzinsel, die bisher unentdeckt blieb. Ein weißer Fleck auf der Landkarte.

„Ich lebe in splendid isolation“, sagt sie von sich selbst und bittet die Besucherin an Land, nicht ohne die Gangway sofort hochzuklappen. Heute wird hier kein Schiff mehr kommen. Die Welt bleibt draußen. Leichtfüßig schwebt sie voran, zart und flüchtig. Es ist nicht leicht, ihr zu folgen, Schritt zu halten auf den verschlungenen Pfaden des Lebens dieser Frau, die eine Insel ist. Seit neunzig Jahren allein in ihrem künstlerischen Werk. Splendid isolation.

Pi Büchner benutzt diesen Begriff auffällig oft. Die Zeitgeschichte versteht unter „splendid isolation“ die Art und Weise, wie das Vereinigte Königreich von England seine geographische Insellage zu nutzen wusste im Hinblick auf seine so besondere Außenpolitik, wie es äußerste Zurückhaltung gegenüber anderen Weltmächten an den Tag legte, die Beteiligung an Allianzen und dauerhaften Verpflichtungen mied und sich auf diese Weise unangreifbar machte. Ähnliches gilt auch für die Künstlerin Pi Büchner: äußerste Zurückhaltung gegenüber der Öffentlichkeit ist ihr oberstes Gebot, dauerhafte Beteiligung an lärmenden und fordernden Gruppen sind ihr zuwider, das Schmieden von Allianzen gar zum Zweck der Durchsetzung einer bestimmten Idee ein Gräuel. Doch ein Mensch kann nicht dauerhaft eine Insel sein - das hat Pi Büchner in ihrem Leben immer wieder, schmerzhaft oft, erfahren.

Die Besucherin sitzt mittlerweile im Wohnzimmer, zwischen großformatigen Bildern und kleinen Radierungen, zwischen Familienfotos, Bücherstapeln und einem schwarzen Flügel. Sitzt da und hört zu, während Pi Büchner erzählt, sich erinnert, immer wieder aufspringt und etwas holt, ein Foto, ein Buch, eine Zeichnung. Zu all dem gibt es kleine Geschichten, die sich wie Perlen aneinanderreihen, beredte Mosaiksteine, die nun vor der Besucherin auf den Tisch purzeln und dort glänzen. Pi Büchner ist viel zu temperamentvoll, als dass sie es allzu lange allein in ihren Erinnerungen aushielte. So erzählt sie, blättert die Jahre auf wie ein Album. „Das bleibt aber unter uns“, beendet sie jede Episode und verschwindet am Ende stumm in einem ihrer Bilder. Taucht ein in die schwungvolle Bewegung der Pinselführung, geht unter in den kräftigen, fast grellen Farben. In der wilden Ekstase, die über ihr zusammenschlägt.

Im Gräfelfinger Haus der Künstlerin

Was schreibt man über jemanden, der nichts preisgeben möchte? Nicht in die Öffentlichkeit treten, nicht in bereits wissende Gesichter schauen will? Vielleicht dieses: Pi Büchner kam als Magdalene Pilgenroeder am 22.4.1927 in Bielefeld zur Welt, im Ortsteil Bethel, als dritte von vier Schwestern, und vier Jahre nach ihrer Geburt zog die Familie nach Hagen, wo Magdalene ihre Kindheit und frühe Jugend verbrachte. Oder vielleicht schreibt man es besser so: Magdalene hieß das Kind, mit einem „e” und nicht mit einem „a“ am Ende, ein „a“ klang in den Ohren des Vaters, eines Diakons, bereits zu katholisch. Zu sinnlich, zu verträumt. Er hatte andere Pläne für seine vier Töchter. Vielleicht aber beginnt man aber besser so: Bethel kennen viele als Sammelstelle für Briefmarken, als Ort für Menschen, die auf Hilfe und Betreuung angewiesen sind, von Pastor Bodelschwingh im 19. Jahrhundert gegründet – mit seinen alten Backsteinhäusern, großen Gärten und den offenen Häusern ein Traum für ein Kind. „Bethel hat uns geprägt, meine Schwestern und mich“, sagt Pi Büchner heute, oft denke sie an Bethel zurück als an einen Ort der Wärme, der Geschichten. Aber auch das darf man nicht schreiben. Die Mutter, so hat es einer der beiden Söhne einmal ausgedrückt, ist in ein evangelisches Diakonenhaus hineingeboren worden und hat darum gelernt, nie in einen Spiegel zu blicken.

Pi Büchners Haus in Gräfelfing ist voller Spiegel. Manchmal sind es gerade die Widersprüche, die mehr über einen Menschen erzählen, als er preisgeben mag. Und darum folgt die Besucherin der verschwundenen Gastgeberin und darum fängt die Geschichte über Pi Büchner jetzt so an: das Mädchen hinter den Spiegeln erfuhr sehr früh, dass es die Formen sind, die den Rahmen schaffen. Sie können einengen, krank machen gar, wie ein zu streng geführter Haushalt, der die Form zum Dogma macht. Formen können aber auch eine große Freiheit ermöglichen, indem sie zum Halt dessen werden, was sich aus ihnen heraus entfaltet. All das hatte das Mädchen hinter den Spiegeln bereits verstanden, als es beschloss, anders als die drei Schwestern, nicht einen – naheliegenden – Pflegeberuf zu erlernen, sondern sich dem zu widmen, was ihr so viel näher, was ihr am Herzen lag: der Musik und der Bildenden Kunst, den Träumen, die ihre Tage prägten. Aber wo gab es dafür, für die zweitjüngste Tochter einer nach festen Regeln lebenden Familie in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine geeignete Schule? Schon die Grundschullehrern hatte das Talent ihrer kreativen Schülerin bemerkt, hatte die Eltern darauf hingewiesen, dass dieses Kind in seinen künstlerischen Fähigkeiten gefördert werden müsse. Doch die bestanden zunächst auf einer üblichen Fachschule für Mädchen. Irgendwann aber entdeckte Magdalene, die ihre Suche nicht aufgab, die Dortmunder Werkkunstschule, die seit Kriegsende im idyllisch gelegenen Schloss Buddenburg untergebracht war. Ein verwunschener Park umgab das Gebäude, nachmittags saß Magdalene, die sich zunächst bescheiden für den Bereich Textilgestaltung eingeschrieben hatte, hier stundenlang und zeichnete. Eines Tages sah ihr dabei Walter Herricht, der damalige Leiter und ein Künstler aus dem Umfeld der Bauhaus-Bewegung, über die Schulter. Als er erfuhr, dass die begabte Zeichnerin an seiner Schule zu dieser Zeit Sticken lernte, schickte er sie sofort in den Studiengang Freie Graphik und damit auf den Weg der Kunst.

Haus und Atelier von Pi Büchner

Die Schülerin genoss die Zeit an der Werkkunstschule mit allen Sinnen. Sie hatte ihre Form, ihre Ausdrucksmöglichkeit gefunden. Hätte sich am liebsten sofort damit auf und davon gemacht, um bis an ihr Lebensende weiterzumalen. Doch es gab Widerspruch, von Seiten des Vaters, aber auch in ihr selbst. Ob man davon würde leben können, vom Zeichnen und Malen? Und so absolvierte die junge Künstlerin noch eine zweite Ausbildung, die einen Brotberuf garantieren sollte: sie lernte den Beruf der Buchhändlerin, besuchte anschließend die Buchhandelsschule in Köln und ging dann nach München, wo sie die theologische Abteilung der Buchhandlung Christian Kaiser übernahm. Wo sie Christian Büchner kennenlernte, heiratete, mit ihm nach Gräfelfing zog, zwei Söhne – Cornelius und Felix – bekam und großzog. Und malte. Einfach immer weitermalte. In ihrem Paralleluniversum.

Unterm Dach, im Atelier findet die Besucherin Pi Büchner wieder. Gerade hängt sie eines ihrer jüngsten Werke, ein großformatiges Bild, an die Wand, um es mit Abstand zu betrachten. Die Farben sind düster, dicht aufgetragen. Figürliches ist nicht erkennbar, erst beim zweiten, dritten Betrachten werden Umrisse sichtbar, Gestalten. Ein Kampf, ein Tanz. Das Auge ist ihr wichtigstes Werkzeug, neben der ausführenden Hand. Kunst kommt von Sehen. Pi Büchner sieht viel, kennt die Arbeiten der Zeitgenossen, weiß, was in der Kunstszene stattfindet. Immer schon, bereits als Schülerin, hat sie Ausstellungen besucht, wann und wo es möglich war. Hat die eigenen Arbeiten im Diskurs mit den Ausgestellten betrachtet, verortet. „Wo stehe ich in diesem Kontext?“ lautete ihre Frage, immer wieder. Die Schule des Sehens ist ihre fortwährende Akademie, neben den Sommerakademien, die sie seit dem Auszug der erwachsenen Kinder immer wieder besucht.

Die Salzburger Sommerakademie an erster Stelle: der bekannte Maler, Happeningkünstler und Wegbereiter der Fluxusbewegung, Wolf Vostell, wurde dort auf sie aufmerksam, wurde neugierig. Er wolle alles sehen, was Pi gemalt habe, erklärte er am Ende des ersten Sommers, 1985 war das und Vostell schmiedete Pläne: er werde gemeinsam mit seiner Frau nach Gräfelfing fahren und Pis Atelier besuchen. Vostell erschien tatsächlich, zusammen mit seiner Frau Mercedes, und was er sah, gefiel ihm außerordentlich. Er wollte Pi Büchners Arbeiten unbedingt ausstellen, doch sie zögerte noch. Im Jahr darauf traf man sich wieder, in der Sommerakademie in der spanischen Extremadura, nahe der Grenze zu Portugal, wo Vostell einen Treffpunkt für Kunst, Leben und Natur eingerichtet hatte. Pi Büchner war ein gern gesehener Gast im Hause Vostell. Zum ersten Mal fühlte die Künstlerin sich verstanden, eingebunden in die Welt, nach der sie immer gesucht hat. „Es wurde eine echte Freundschaft draus“, erinnert sie sich, „wir wollten uns regelmäßig treffen, einander unsere Arbeiten zeigen, aber leider ist er unerwartet gestorben.“ Sie nimmt das Bild von der Wand, legt es auf den Stapel, zieht ein anderes hervor. Ein kleineres, spätsommerlich expressiv in der Farbgebung, ockerfarben auch das Papier, nicht gerahmt wie fast alles hier oben. Gestapelt liegen die Werke auf dem Tisch im Atelier, stehen aufgerollt nebeneinander am Boden, warten darauf, entdeckt zu werden.

Im Atelier der Künstlerin lagern viele hundert Bilder

Nach Wolf Vostells Tod hat Pi Büchner andere Kunstkontakte gesucht, hat sich an der Sommerakademieklasse von Hermann Nitsch eingeschrieben, dem Maler und Aktionskünstler, einem der bedeutendsten Vertreter des Wiener Aktionismus. Im Jahr darauf lernte und arbeitete Pi dann bei Milan Knizak, dem Direktor der Prager Kunsthochschule, dessen Gruppe sie sich anschloss. Gemeinsam verbrachte man einen Arbeitssommer auf der Insel La Gomera. Schauen, schaffen, schauen. Debattieren, miteinander arbeiten, aneinander wachsen und immer wieder voneinander lernen. „Es ist diese Lernspur“, sagt sie, „die ich bitte nicht, nie aufgeben möchte.“ Ein gigantisches Werk ist im Lauf dieses Lebens, dieser fortwährenden Lernzeit entstanden. Abstrakte Bilder, Skizzen und Studien, Radierungen, die sie auf der eigenen Radierpresse im Keller druckt. Ein Werk, das zeitweise wie im Rausch entstand, in intensiven Schaffensphasen, auf die wie beim Atemfluss wieder lange Phasen des Einatmens, Luftholens folgten. Zeiten, in denen ihre Wahrnehmung sich in ihrem Innern anstaute, verdichtete, bis irgendwann der Druck zu groß wurde und alles nach außen musste. Auf die Leinwand. Auf Papier. Ausgestellt hat Pi Büchner, von kleinen Schauen im Rahmen der Sommerakademien abgesehen, bisher nie. Splendid isolation.

Wann hat sie begonnen, sich in eine Insel zu verwandeln? Nach dem frühen Tod des Künstlerfreundes Wolf Vostell? Während der schwierigen Zeit der Ehe, die, als die Söhne groß genug waren, getrennt wurde? Als aus Magdalene Pilgenroeder Pi Büchner wurde, der knappe Spitzname eine Abkürzung des Mädchennamens? Oder schon sehr viel früher, in der Kindheit, wo dem begabten Kind zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde? Vielleicht geschah es immer wieder, aus all dem zusammen. Inseln wachsen langsam. „Ich habe grundsätzlich geträumt“, sagt Pi Büchner, „habe immer nur wenig Leute daran teilhaben lassen.“ Hoffentlich darf sie noch lange träumen.